Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Innrain 52, 6020 Innsbruck
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Hörsaal zwischen Fortnite und Minecraft: Universitäre Distanzlehre auf einer Plattform für Computerspiele

Ziele/Motive/Ausgangslage/Problemstellung

Sommer 2020. Wie nutzen wir die kurze Phase der Entspannung, um uns optimal für ein Wintersemester in der Pandemie vorzubereiten? Wir rechnen mit deutlich mehr Studienanfänger/innen in der Informatik, die ein „Gap-Year“ nutzen wollen oder eine Zukunft in der Digitalwirtschaft sehen. Viele von ihnen haben noch nie an einer Universität studiert. Das erste Semester legt elementare Grundlagen für das gesamte, ohnehin dicht gepackte Bachelorstudium. Abstriche beim Inhalt sollten unbedingt vermieden werden. Die Institutsleiterin fasst die Herausforderung treffend zusammen: „Wir müssen zum Lebensmittelpunkt unserer Studierenden trotz Distanzlehre werden.“ Statt den Studierenden eine neue Plattform anzubieten, kommen wir zu ihnen – das gesamte Modul „Rechnerarchitektur“ (bestehend aus Vorlesung und Proseminar) verlegen wir auf die bei unserer Zielgruppe beliebten Streaming-Plattform „Twitch“. Die Plattform dreht sich primär um Videospiele. Wir müssen deren Regeln lernen, uns anpassen und stets bedenken, dass Ablenkung in Form von Computerspielen nur einen Klick von uns entfernt ist.

Kurzzusammenfassung des Projekts

Universitäre Distanzlehre auf einer Plattform für Computerspiele: Mit der Lehrveranstaltung Rechnerarchitektur für die technologieaffine Zielgruppe der Informatikanfänger/innen erprobt die Universität Innsbruck ein Lehrformat, welches die Mittel einer modernen Streaming-Plattform mit Live-Chat bestmöglich nutzt. Durch akribische Vorbereitung gelingt es, eine Form pseudonymer Öffentlichkeit zu schaffen, die einen unterhaltsamen und zugleich lehrreichen Dialog zwischen einem Team aus Lehrenden und hunderten Lernenden ermöglicht. Dazu tragen insgesamt 66 vorproduzierte, aufeinander aufbauende Videoeinheiten bei, die Kerninhalte kompakt vermitteln und gezielt nachgesehen werden können. Spezialeffekte wie Animationen und Klänge werden behutsam eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Studierenden zu erhöhen und sie zur aktiven Teilnahme zu motivieren. Studierende können das Lehrangebot synchron und asynchron rezipieren. Durch den Einsatz von über 70 den Stoff begleitenden Testfragen erhalten sie wöchentlich Rückmeldung über ihren Lernfortschritt. Im Wintersemester 2020/21 überstieg die Anzahl der Hörer/innen die Zahl der formell eingeschriebenen Studierenden um ein Vielfaches.

Link zu den gesammelten Materialien:

informationsecurity.uibk.ac.at/teaching/rechnerarchitektur/

Kurzzusammenfassung des Projekts in englischer Sprache

University distance learning on a platform for computer games: With the computer architecture course for the technology-savvy target group of undergraduates in computer science, the Universi-ty of Innsbruck is testing a teaching format that makes the best possible use of the means of a modern streaming platform with live chat. Through meticulous preparation, it is possible to create a form of pseudonymous public that enables an entertaining and at the same time educational dia-logue between a team of teachers and hundreds of learners. A total of 66 pre-produced video units that build on each other contribute to this, conveying the core content in a compact and targeted manner. Special effects such as animations and sounds are carefully used to raise the students' attention and motivate them to participate actively. Students can take the courses synchronously and asynchronously. By using over 70 test questions accompanying the material, they receive weekly feedback on their learning progress. In the winter term 2020/21, the number of listeners exceeded the number of formally enrolled students by many times.

Link to the collection of material (in German): informationsecurity.uibk.ac.at/teaching/rechnerarchitektur/

Nähere Beschreibung des Projekts

Rechnerarchitektur ist ein Grundlagenfach der Informatik. Es beinhaltet Prinzipien der Digitaltechnik, Zahlendarstellung, Mikroprozessoren und deren Programmierung sowie das Zusammenspiel der Komponenten im System. Studierenden, die diese Grundlagen verstehen (und mit Freude lernen), fällt es leichter sich selbstständig anspruchsvollere Inhalte im Informatikstudium zu erschließen. Die Inhalte sind auch für eine breitere Öffentlichkeit geeignet, welche die technischen Grundlagen der Digitalisierung begreifen, mit Experimenten selbst erproben oder anderweitig mitgestalten will.

Damit bietet sich diese Lehrveranstaltung für eine öffentliche Abhaltung in der Distanzlehre besonders an. Wir nutzen dazu die bei unserer Zielgruppe beliebten Streaming-Plattform „Twitch“ und fühlen uns dort als Gäste mit selbst auferlegten Verhaltensregeln. Denn die meisten Studierenden sind mit dieser Umgebung viel vertrauter als wir. Die Hörer/innen verfolgen auf der Plattform den von uns semiprofessionell erstellten Video-Stream in HD-Qualität mit nur wenigen Sekunden Verzögerung. Die Kommunikation von Hörer/innen zu den Lehrenden sowie untereinander erfolgt über einen mit dem Stream synchronisierten Text-Chat, den wir zurückhaltend moderieren. Im Chat erscheinen alle Hörer/innen unter selbst gewählten Pseudonymen, die wir bewusst nicht mit den Identitäten unserer Studierenden verknüpfen können. Externe Hörer/innen sind Studierenden gleichgestellt. Aufzeichnungen der Streams und Chat-Verläufe stehen auf der Plattform für zwei Wochen nach Ausstrahlung zum asynchronen Nachsehen zur Verfügung. Die auf der Plattform vorhandenen Kommerzialisierungsmöglichkeiten für Autoren wurden konsequent nicht aktiviert.

Die Lehrveranstaltung gliedert sich in wöchentliche Vorlesungen (90 Minuten) und ein Proseminar (Übung) am Folgetag, welches unterschiedlich lange dauert, je nachdem wie viele Fragen der Studierenden zu besprechen sind. Beide Streams hatten im Wintersemester 2020/21 wöchentlich mehr als 300 Zuschauer/innen und erreichten fast immer mehr als 1000 Aufrufe im Zeitraum der zwei Wochen. Die Tatsache, dass mehr als 600 Personen unserem Kanal „folgen“, bei 400 angemeldeten Studierenden, deutet auf eine erhebliche Rezeption durch externe Hörer/innen hin. Ein Zeit-Redakteur bezeichnete unseren Stream gar als „Blockbuster“ (in der Ausgabe vom 4.12.2020).

Bei der Darstellung der inhaltlichen Ausgestaltung unterscheiden wir zwischen dem Vorlesungs-Stream, der die neuen Inhalte vermittelt, und dem Proseminar-Stream, der aus der Vorlesung bekannte Inhalte vertieft sowie die Lösungen zu im Web bereitgestellten Übungsaufgaben bespricht.

Die 90-minütigen Vorlesungs-Streams werden vom Professor gehalten. Sie bestehen zu einem Drittel aus speziell für diesen Zweck voraufgezeichneten, durchschnittlich sechs Minuten langen Videos, welche Kernaspekte kompakt erklären und den Studierenden auch als Referenz bei der Prüfungsvorbereitung zur Verfügung stehen. Für jedes Video wurde zuvor ein Manuskript erstellt, dieses in zwei Takes mit Teleprompter und Green-Screen-Technik eingesprochen und anschließend mit den speziell für diesen Zweck animierten Folien zusammengeschnitten. Die Videoeinspielungen verteilen sich gleichmäßig auf die 90 Minuten und bringen Abwechslung in den Stream. Nach jeder Videoeinspielung folgt eine Pause von einer Minute, in der Fragen im Chat gestellt werden können. Ein weiteres Drittel der Vorlesungszeit widmet sich der Beantwortung dieser Fragen und den daraus hervorgehenden Rückfragen. Um keine zu langen Lesepausen entstehen zu lassen, werden die Fragen von den Chat-Moderatoren vorsortiert und dem Professor direkt neben der Kamera angezeigt, der auf diese Weise stets Blickkontakt mit dem Publikum halten kann. Fragen, die Inhalte vorweggreifen oder nicht in den Kontext passen, werden schriftlich im Chat beantwortet – teils von anderen Hörer/innen, teils von den Moderatoren oder vom Professor während der Videoeinspielungen. Das letzte Drittel der Vorlesungszeit widmet sich vertiefenden Aspekten, die Zusammenhänge herstellen oder Bekanntes aus anderer Perspektive beleuchten. Hier kommen Merkhilfen und Anekdoten zum Einsatz und es werden mehrere thematische Fäden immer wieder aufgegriffen (z.B. Schlüsselereignisse in der Computergeschichte, Anekdoten aus dem Silicon Valley, Bezüge zur Unterhaltungselektronik, reflektierende und kritische Aspekte wie ökologische oder soziale Folgen, vereinzelt auch Humor). Diese Inhalte werden live und allein mit Folienunterstützung präsentiert, was den lebendigen Charakter der Veranstaltung unterstreicht. Zur Veranschaulichung werden hier auch Demonstrationsobjekte (elektronische Bauteile, einfache Schaltungen) über eine Objektkamera eingeblendet. Auf jahreszeitliche Ereignisse (Halloween, Advent, Weihnachten) wird unterhaltsam jedoch stets mit Vorlesungsbezug eingegangen. Neben dem Chat kommen regelmäßig Multiple-Choice-Hörsaalfragen zum Einsatz, mit welchem die Hörer/innen ihr Verständnis der Materie selbst prüfen können und ein Bild der Antwortverteilung sowie der Beteiligung aller als Rückmeldung erhalten.

Die Proseminar-Streams werden von einem Team aus zwei Proseminarleitern gehalten, die stets gleichzeitig live im Bild sind (jedoch in Lockdown-Zeiten von verschiedenen Orten aus streamten) und einen Dialog führen. Abwechselnd nach Themengebieten nimmt ein Proseminarleiter die Rolle des Lehrers und der andere die Rolle des „repräsentativen Studierenden“ ein, der die Fragen der Studierenden im Chat sowie eigene didaktisch angebrachte Fragen stellt. Der Lehrer rechnet auf einem Zeichentablett bzw. programmiert in einem Editor die Lösungen zu den Aufgaben vor, die den Studierenden in der Vorwoche aufgegeben wurden. Die selbständige Bearbeitung der Aufgabenzettel wird zu Beginn jedes Termins in einem 5-minütigen Online-Test überprüft. Für diese Tests wurden insgesamt 70 Multiple-Choice-Aufgaben mit Bezug zur jeweiligen Hausaufgabe erstellt. Mithilfe des an der Universität Innsbruck entwickelten Werkzeugs „R/exams“ konnten diese Tests grafisch ansprechend gestaltet werden (z.B. Signalverläufe als Kurven, Formelsatz, Schaltpläne) und in vielen Varianten ausgeliefert werden, was Schummeln durch Zusammenarbeit erschwert. Die unmittelbare Rückmeldung über die erreichte Punktezahl gibt Aufschluss über den eigenen Fortschritt und motiviert durch „Gamification“-Elemente und freiwilligen sozialen Vergleich (im Chat) zur wöchentlichen Vorbereitung. Zu zwei ausgewählten Terminen waren die eigenen Lösungen abzugeben. Damit konnte die Fähigkeit beurteilt werden, komplexere Aufgaben zu lösen wie bspw. die Assembler-Programmierung. Die stets über 200 Einreichungen wurden semi-automatisch bewertet und mit individuellem Feedback zurückgegeben. Die Abwicklung dieser Aufgaben erfolgte nicht über die „Twitch“-Plattform sondern über das universitätseigene Lernmanagementsystem u.a. zur Gewährleistung einer rechtskonformen Verarbeitung der zur Beurteilung zwingen notwendigen personenbezogenen Daten.

Insgesamt waren wir von der Resonanz und Beteiligung der Hörer/innen überwältigt. Ein harter Kern aus ca. 20 Hörer/innen hat im Semesterverlauf jeweils mehr als 100 konstruktive Beiträge im Chat gemacht. Zum Vergleich: In der Präsenzvorlesung des Vorjahres gab es im Mittel drei (!) Wortmeldungen pro Woche. Die erzielten Studienleistungen liegen trotz höherer Anfängerzahlen und deutlich erschwerter Bedingungen signifikant über denen der Vorjahre. Vielleicht liegt das an der Verfügbarkeit der Video-Einheiten, welche allein in den 24 Stunden vor der Prüfung insgesamt eine Gesamtwiedergabezweit von 122 Stunden erreichten. Ein/e regelmäßige/r Chat-Teilnehmer/in fasst es am Ende so zusammen: „Aus der Krise das Beste gemacht, könnte man sagen.“ Die Ergebnisse der Lehrveranstaltungsanalyse liegen zum Einreichungszeitpunkt noch nicht vor.

 

 

Nutzen und Mehrwert

Alle Lehrenden sowie sehr viele Studierenden hatten sehr viel Freude an dieser Lehr- und Lernform. Die deskriptiven sozialen Normen auf der Plattform ermöglichen einen echt mehrseitigen Informationsaustausch und regen zur aktiven Teilnahme an. Die Möglichkeit zur asynchronen Rezeption vereinfacht die Studienplanung sowie ein gezieltes Nachsehen verpasster oder nicht ganz verstandener Inhalte. Die wöchentlichen Rückmeldungen zum eigenen Fortschritt bieten Gratifikation oder mahnen eine Erhöhung des persönlichen Einsatzes zeitnah an. Zeitersparnis oder Aufwandsreduktion war kein Ziel dieser Maßnahme. Im Gegenteil: Wir wollten Lebensmittelpunkt der Studierenden werden und sind es zum Teil geworden.

Nachhaltigkeit

Das Konzept eignet sich für die Vermittlung von Grundlagenwissen an große Hörer/innen/zahlen. Technische Affinität ist hilfreich, aber nicht unbedingt erforderlich. Durch die Möglichkeit zur asynchronen Rezeption eignet es sich im besonderen Maße für Erweiterungs- und Ergänzungsstudien, da Terminkonflikte vermieden werden. Wir planen, das Konzept fortzuführen und weiter zu entwickeln. Teile daraus werden auch in Zukunft die Präsenzlehre unterstützen.

Aufwand

Ca. vierfache Vorbereitungszeit im ersten Durchlauf unter Verwendung bereits vorhandener Vorlesungsmaterialien; Kosten für eine studentische Mitarbeiterin (in Teilzeit) für den Videoschnitt; mindestens eine zusätzliche Person zur Chat-Moderation während der öffentlichen Streams.

Positionierung des Lehrangebots

Bachelor-, Erweiterungs-, und Lehramtsstudium Informatik im ersten Semester, an Digitalisierungsthemen interessierte Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum. 409 angemeldeten Studierenden an der Universität Innsbruck steht eine Hörer/innen/schaft von ca. 700 Personen gegenüber. Die Streams typischer Lehrveranstaltungen werden über 1000-mal angesehen.

Links zu Social Media-Kanälen
Das Beispiel wurde für den Ars Docendi Staatspreis für exzellente Lehre 2021 nominiert.
Ars Docendi
2021
Kategorie: Digitale Transformation in der Lehre
Ansprechperson
Rainer Böhme, Univ.-Prof. Dr.
Institut für Informatik
+43 512 507-53202
Nominierte Person(en)
Rainer Böhme, Univ.-Prof. Dr.
Institut für Informatik
Keller, Patrik
Institut für Informatik
Schlögl, Alexander
Institut für Informatik
Fröwis, Michael
Institut für Informatik
Dzida, Gloria
Institut für Informatik
Themenfelder
  • Digitalisierung
  • Lehr- und Lernkonzepte
  • Kommunikation/Plattform für Lehrende
Fachbereiche
  • Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik/Ingenieurwissenschaften