Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Innrain 52, 6020 Innsbruck
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Modul: Wirtschaftspädagogische Forschungskompetenzen (VO + PS), Masterstudium Wirtschaftspädagogik Diskursanalyse als Werkzeug zur Erzeugung von ‚Critical Literate Teachers‘ (CLT) in der beruflichen Lehrer/innenbildung

Ziele/Motive/Ausgangslage/Problemstellung

Unsere hochschuldidaktische Zielsetzung besteht in der Generierung von ‚Critical Literacy‘ bei angehenden Lehrkräften des wirtschaftsberuflichen Schulwesens. Es geht um die Schärfung des 'kritischen Blicks' von angehenden Lehrpersonen, der ihnen ermöglicht, Organisationsmuster des Wissens zu erkennen und didaktisch zu verarbeiten. Die Kritikfähigkeit bezieht sich auf Unterrichtsmedien, insbesondere auf textliches Unterrichtsmaterial (z.B. Schulbücher). Critical Literacy umfasst im Kern eine produktive Erschütterung der 'Normalität' der Wahrnehmung des textlichen Materials, reflektiert unterschiedliche Perspektiven und führt zu begründet-reflexiver Veränderung der Verwendungsweisen. Abgebildet wird somit in unserem Design der pädagogische Anspruch einer universitären Lehrer/innenbildung, die auf kritische Urteilskraft und verantwortliches Handeln zielt. Wir sehen die Erzeugung von Critical Literacy als Kern eines wissenschaftlichen Studiums und der Entwicklung von Forschungskompetenzen.

Die zentrale Frage ist jedoch, wie eine Critical Literacy im universitären Unterricht methodisch erzeugt werden kann. Hierzu wurde ein spezifisches neues diskursanalytisches Verfahren der universitären Lehrer/innenbildung entwickelt, umgesetzt und evaluiert. Es ist von unseren aktuellen und früheren Arbeiten zur Schulbuchforschung (vgl. Ostendorf & Thoma 2010, Thoma 2015) inspiriert und basiert auf einem speziell entwickelten Analyseschema (Grobanalyse, Feinanalyse, Musterschau, diskursiver Steckbrief). Damit fließen Aspekte unseres Forschungsansatzes unmittelbar in das hochschuldidaktische Design ein.

Kurzzusammenfassung des Projekts

Das Modul besteht aus einer 2-stündigen Vorlesung sowie einem 3-stündigen Proseminar, das überwiegend projektförmig und erfahrungsorientiert ausgerichtet ist. In den Sommersemestern 2015 und 2016 war das Modul thematisch an den Forschungsbereich ‚Schulbücher als Medien im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Unterricht‘ geknüpft. Neben der Vermittlung qualitativer und quantitativer Zugänge zur Schulbuchforschung erfolgte eine Einführung in Diskurstheorie und in Foucaultsche Diskursanalyse. Das Herzstück des Moduls stellte in beiden Semestern eine angeleitete und in Präsenzphasen und Einzelberatungsterminen betreute, aber von den Studierenden in Eigenregie und -verantwortung durchzuführende Schulbuchanalyse in Kleingruppen (5 Personen). Über einen Zeitraum von ca. 2 Monaten sollten die Studierendengruppen betriebswirtschaftliche Schulbücher bezüglich der im textlichen Material inkorporierten Darstellungsformen ausgewählter ‚Wissensbereiche‘ aus diskursanalytischer Forschungsperspektive untersuchen. Unsere hochschuldidaktische Zielsetzung hierbei war die Generierung von ‚Critical Literacy‘ bei den Studierenden. Eine solche Fähigkeit ist u.E. bei der Inszenierung eines an Vielfältigkeit, Facettenreichtum und Multiperspektivität interessierten wirtschaftsberuflichen Unterrichts von besonderer Bedeutung.

Nähere Beschreibung des Projekts

Im 5-semestrigen Masterprogramm Wirtschaftspädagogik der Universität Innsbruck absolvieren die Studierenden (i.d.R. im 3. Semester) ein Modul (10 ECTS), das auf forschungsmethodische Kompetenzentwicklung abzielt. Das Modul besteht aus einer 2-stündigen Vorlesung (mit eher instruktiv-darbietendem Charakter) sowie einem 3-stündigen Proseminar, das überwiegend projektförmig und erfahrungsorientiert ausgerichtet ist. Insgesamt erhalten die Studierenden in diesem Modul einen Überblick über methodologisch-methodische Zugänge empirischer Sozialforschung, der sie zur systematischen und kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis empirischer wirtschaftspädagogischer Forschungsprojekte befähigen soll. An den Erwerb grundlegenden Methodenwissens ist die selbständige Bearbeitung aktueller wirtschaftspädagogischer Fragestellungen im Rahmen der selbständigen, eigenverantwortlichen Durchführung kleinerer Forschungsprojekte gekoppelt.

In den Sommersemestern 2015 und 2016 war das Modul thematisch an den Forschungsbereich Schulbuchforschung (Schulbücher als Medien im kaufmännisch-betriebswirtschaftlichen Unterricht) geknüpft. Neben der Vermittlung qualitativer und quantitativer Zugänge zur Schulbuchforschung erfolgte eine Einführung in Diskurstheorie und in Foucaultsche Diskursanalyse. Das Herzstück des Moduls stellte in beiden Semestern eine angeleitete und in Präsenzphasen und Einzelberatungsterminen betreute, aber von den Studierenden in weitgehender Eigenregie und -verantwortung durchzuführende Schulbuchanalyse in Kleingruppen (5 Personen). Über einen Zeitraum von ca. 2 Monaten sollten die Studierendengruppen betriebswirtschaftliche Schulbücher bezüglich der im textlichen Material inkorporierten Darstellungsformen ausgewählter ‚Wissensbereiche‘ aus diskurs-analytischer Forschungsperspektive untersuchen.

Unsere hochschuldidaktische Zielsetzung hierbei war die Generierung von ‚Critical Literacy‘ bei den Studierenden. Critical Literacy “involves second guessing, reading against the grain, asking hard and harder questions, seeing underneath, behind, and beyond texts, trying to see and ‚call‘ how these texts establish and use power over us, over others, on whose behalf, in whose interests.“ (Luke 2004: 4) Critical Literacy adressiert damit grundsätzlich die Fähigkeit des kritisch-reflexiven Umgangs mit Wissen. Sie kann über vier Facetten näher beschrieben werden: ‚disrupting the commonplace‘, ‚interrogating multiple viewpoints‘, ‚focusing on sociopo-litical issues‘, ‚taking action and promoting social justice‘ (vgl. Lewison et al. 2002: 382ff.).

Die pädagogische Forderung nach der Entwicklung einer Critical Literacy bezieht sich auf die LehrerInnenbildung und den Unterricht an Schulen gleichermaßen. Die Unterstützung von Lernenden in der Entwicklung von Critical Literacy setzt jedoch voraus, dass der Blick der Lehrkräfte selbst geschärft und darin ausgeprägt ist, die Organisationsmuster des Wissens zu erkennen und zu bewerten.

Eine solche kritisch-reflexive Haltung im Umgang mit Wissen zeigt sich in unterrichtlichen Kontexten dann in der Art und Weise der Auswahl-, Reduktions- und Aufbereitungspraktiken von textbasierten Inhalten und damit auch der diese organisierenden Unterrichtsmaterialien. Dies, sowie eine sich daran anschließende auf Vielfältigkeit, Facettenreichtum und Multiperspektivität gerichtete Inszenierung von Unterricht, ist aus unserer Sicht wesentliches Ziel einer universitären LehrerInnenbildung, die über den Anspruch eines methodischen Trainings und den Modus der Reproduktion von Inhalten hinausgehen will.

Die These, die bei der Konzeption unserer hochschuldidaktischen Intervention leitend war, geht von der Annahme aus, dass diskursanalytische Arbeit zur Erzeugung von Critical Literacy beitragen kann. Hierfür finden sich in der einschlägigen Literatur einige Hinweise (vgl. z.B. Rogers & Mosley Wetzel 2014: 100).

Nachfolgend werden Eckpunkte des Kursdesigns konkretisiert:

Annahmen bzgl. der anthropogenen Bedingungen der TeilnehmerInnen:

• Die Studierenden haben alle wirtschaftswissenschaftliches Wissen auf Bachelorniveau erreicht, zumindest erziehungswissenschaftliches und wirtschaftspädagogisches Grundlagenwissen, fachdidaktisches Wissen und Können (incl. 4-wöchigem Schulpraktikum und Wiederholung des Schulstoffs kaufmännischer Schulen) im Masterprogramm Wirtschaftspädagogik erworben.

Ziele des Moduls: Erzeugung von Critical Literacy der TeilnehmerInnen über diskursanalytische Arbeit

• Studierende entwickeln die Fähigkeit und die Bereitschaft Schulbuchwissen kritisch-reflexiv zu hinterfragen. Dabei werden sowohl eigene Haltungen in Bezug auf dieses Unterrichtsmedium an sich, wie auch eigene Überzeugungen und Annahmen in Bezug auf die Art und Weise des dort vermittelten Wissens ('kritisch-konstruktives Misstrauen') zur Disposition gestellt. (Disrupting the commonplace)

• Studierende erkennen die Relativität, Perspektiven- und Kontextgebundenheit von (Schulbuch-)Wissen und hierüber z.B. die Bedeutung von Facettenreichtum/multiplen Sichtweisen der im Unterricht zu thematisierenden Inhalte als zentrale Voraussetzung einer reflexiven ökonomischen Bildung. (Interrogating multiple viewpoints)

• Studierende erkennen die machtvolle Bedeutung von Sprache in Texten und deren strukturierende Wirkung auf (eigene) Wahrnehmungsweisen und Interpretationsformen sozio-ökonomischer Realitäten. (Focusing on sociopolitical/-economical issues)

• Studierenden gelingt eine Verbindung der im Modul erworbenen kritischen Haltung im Hinblick auf Umsetzungsmöglichkeiten im Rahmen eigener Gestaltung betriebswirtschaftlichen Unterrichts. Sie integrieren politisch-demokratische, auf Inklusion und Heterogenität gerichtete Ansprüche in die Inszenierung wirtschaftsberuflicher Lehr-Lern-Situationen. (Taking action and promoting social justice)

 

Methodik: Darbietend-instruktive Vermittlung diskurstheoretischer Konzepte und projektförmig organisierte Analyse von Schulbuchwissen in Kleingruppenarbeit

• Studierende erhalten eine Einführung in Diskurstheorie und Foucaultsche Diskursanalyse

• Studierende führen in Form einer Projektarbeit eine diskursanalytisch ausgerichtete Analyse von betriebswirtschaftlichen Schulbüchern durch, die auf die inkorporierten Darstellungsformen und Formationslogiken ausgewählter Wissensbereiche gerichtet ist. Exemplarisch hierfür werden die für den auf fünf Schuljahre ausgerichteten Schultyp Handelsakademie staatlich zugelassenen Bücher der beiden auflagenstärksten Verlage gewählt. Die Bücher werden den Studierenden zur Verfügung gestellt. Pro Gruppe sind in etwa 1300 Textseiten zu bearbeiten. Forschungsleitend ist hierbei die Frage, welches Bild sich in Bezug auf die zu bearbeitenden Themen in den Texten zeigt? Zur Bearbeitung standen u.a. folgende Themen:

 

Das Bild…

o des Gefährlichen/Bedrohlichen

o der Führung

o von Normalität

o von Gerechtigkeit

o von Verantwortung

 

• Für die eigenständige Projektarbeit erhalten die Studierenden einen Leitfaden zur Analyse von Schulbuchwissen, der 4 Phasen des Forschungsablaufs vorgab (vgl. hierzu Thoma 2015):

 

o Im Rahmen einer Grobanalyse (Phase 1) findet eine induktiv angelegte Auswahl und Markierung von Textpassagen mit Bezug zum thematischen Aufhänger statt, die einer Filterung und Reduzierung des Materials dient.

o In einem zweiten Schritt folgt eine Feinanalyse, in der ein heuristisches Frageraster an die markierten Textpassagen angelegt wird. Diese heuristischen Fragen dienen als Anhaltspunkte, um diskursive Praktiken der Wissensformation aufzuspüren. Das Ergebnis dieser Feinanalyse dokumentiert sich in einer paraphrasierenden Umschreibung.

o In Phase 3 erfolgt eine systematische Zusammenschau der Paraphrasierungen, die der Frage folgt, ob sich in Bezug auf das gewählte Thema wiederkehrende, gleichförmige Muster, dominante, hegemoniale Perspektiven finden.

o Im Anschluss (Phase 4) erfolgt die Anfertigung eines diskursiven Steckbriefs, der die Grundlogik der Wissensformierung beschreibt.

 

• Studierende dokumentieren ihren Forschungsprozess, die Analyseergebnisse sowie ihre methodische Reflexion in Form einer schriftlichen Abschlussarbeit. Hierbei stellen sie auch Überlegungen in Bezug auf didaktische Implikationen auf Basis ihrer Analysearbeit an. Sie präsentieren ihre Ergebnisse im Rahmen des Seminars.

 

Literatur

Lewison, M. & Flint, A. & Van Sluys, K. (2002): Taking on Critical Literacy. The Journey of Newcomers and Nov-ices. In Language Arts, Vol. 79, No 5, pp. 382 – 392.

Luke, A. (2004): Foreword, In: McLaughlin, M. & DeVoogd, G. (Eds.), Critical Literacy: Enhancing students’ com-prehension of text, pp. 4-5

Rogers, R. & Mosley Wetzel, M. (2014): Designing Critical Literacy Education through Critical Discourse Analysis. Pedagogical and Research Tools for Teacher Researchers. New York and London: Routledge.

Ostendorf, A. & Thoma, M. (2010): Das Bild der Organisation und die Organisation des Bildes - ein Beitrag zu einer poststrukturalistisch orientierten Schulbuchforschung, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), Heft 2, S. 240-257.

Thoma, M. (2015): Critical analysis of textbooks: knowledge-generating logics and the emerging image of ‘global economic contexts‘. In: Critical Studies in Education, doi: 10.1080/17508487.2015.1111248.

Positionierung des Lehrangebots

Masterstudium Wirtschaftspädagogik

Das Beispiel wurde für den Ars Docendi Staatspreis für exzellente Lehre 2017 nominiert.
Ars Docendi
2017
Kategorie: Forschungsbezogene Lehre, insbesondere die Vermittlung wissenschaftlichen Arbeitens während des Studiums
Ansprechperson
Michael Thoma, Ass.-Prof. Dr.
Institut für Organisation und Lernen, Bereich Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung
0512 507 71498
Nominierte Person(en)
Michael Thoma, Ass.-Prof. Dr.
Institut für Organisation und Lernen, Bereich Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung
Annette Ostendorf, Univ.-Prof. Dr.
Institut für Organisation und Lernen, Bereich Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung
Themenfelder
  • Lehr- und Lernkonzepte
  • Rund ums Evaluieren der Lehre
  • Wissenschaftliche (Abschluss)Arbeiten
Fachbereiche
  • Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften