Ethnozahnmedizin – Ein interdisziplinäres Seminar zur Bereicherung der zahnmedizinischen Forschung und Lehre um ethnologische, tropenmedizinische und kulturelle Aspekte.

Ziele/Motive/Ausgangslage/Problemstellung

Die Danube Private University (DPU) bietet im Bereich der Zahnmedizin eine Vielzahl universitärer Lehrgänge an. Die meisten dieser Lehrgänge haben aus innerer Notwendigkeit - immerhin gilt es Zahnärzte und Kieferorthopäden auszubilden - einen stark klinischen Bezug. Der DPU ist es allerdings ein besonderes Anliegen, ihren Studierenden abseits der Ausbildung zu Dentalmedizinern und der Lehre der dafür grundlegenden wissenschaftlichen Inhalte einen breiteren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Horizont zu eröffnen. Aus diesem Grund und um die Interdisziplinarität an der DPU weiter zu fördern hat das Rektorat im Jahr 2014 das interfakultäre Forschungszentrum für Natur- und Kulturgeschichte des Menschen eingerichtet.

Für das Forschungszentrum für Natur- und Kulturgeschichte des Menschen konnte die DPU international renommierte Forscher verpflichten. Unter ihnen Univ.-Prof. Dr. Kurt Alt, der dem Forschungszentrum als Direktor vorsteht, wie auch Assoz. Prof. Dr. Dr. Roland Garve, der sich durch seine Arbeit an der Schnittstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaften einen Namen gemacht hat.

Seit Bestehen des Forschungszentrums für Natur- und Kulturgeschichte des Menschen ist das Zentrum darum bemüht, den Studierenden der DPU einerseits einen Einblick in aktuelle, international prominente Forschung zu eröffnen und andererseits die zahnmedizinische Forschung und Lehre um interdisziplinäre und kulturelle Aspekte zu bereichern.

Kurzzusammenfassung des Projekts

Prof. Dr. Dr. Garve etabliert seit 2014 an der DPU die neue wissenschaftliche Disziplin der Ethnozahnmedizin. Dies ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die Zahnmedizin mit Kulturwissenschaften, Anthropologie, Tropenmedizin, Ethnologie und Pharmakologie verbindet. Diese Synthese eröffnet neue Heilungsansätze für konkrete wissenschaftliche und klinische Phänomene sowie fachliche und persönliche Kompetenzen angesichts der Herausforderungen einer multiethnischen, globalisierten Welt. So können anatomische Besonderheiten von Angehörigen gewisser Kulturkreise, die im Westen fast nie vorkommen, durch das Wissen der Ethnozahnmedizin ebenso erkannt und behandelt werden wie in unserer Kultur kaum bekannte, durch Migration und Klimawandel aber zunehmende Erkrankungen. Auch Heilkräuter und Heilmethoden indigener Völker werden untersucht und mit westlicher Medikation in Kontext gesetzt. Die Studierenden werden für den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturkreisen sensibilisiert. Gesellschaftliche Dogmen, Zahnriten und -kulte werden ebenso besprochen wie kulturell unterschiedliche Zahnästhetik und Zahnhygiene.

Geforscht wird anhand von authentischen, von Expeditionen mitgebrachten Zahnabdrücken und anderen Artefakten. Die eigene Forschung der Studierenden steht im Vordergrund. Die Lehre passiert im kritischen Dialog.

Als kritische Reflexion des eurozentristischen Blicks konfrontiert Ethnozahnmedizin die angehenden Zahnärzte auch mit ihrer sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung

Kurzzusammenfassung des Projekts in englischer Sprache

Dr. Dr. Roland Garve has been establishing the new scientific discipline of ethno-dentistry in seminars at DPU since 2014. Ethno-dentistry is an interdisciplinary science which integrates dentistry with culture science and anthropology, tropical medicine, ethnology and pharmacology. This synthesis opens the way to new therapy methods for concrete scientific and clinical phenomena as well as to new technical and personal competencies to master the challenges of a multi-ethnic, globalized world. Thus, anatomical peculiarities of certain cultures which hardly ever occur in western countries as well as diseases hardly known in our cultural sphere, but increasing due to migration and climate change, can be recognized and treated applying the knowledge of ethno-dentistry. Also medicinal herbs of indigenous peoples are studied and put in context with western medication. The students are sensitized to people from other cultures, including social dogmas, dental rites and cults as well as culturally different concepts of dental aesthetics and hygiene.

Research is based on authentic dental impressions and other artefacts brought back from expeditions. The focus is on the student’s own research and teaching in critical dialogue.

As a critical reflection of the Eurocentric attitude, ethno-dentistry confronts the future dentists with their social and communal responsibility.

Nähere Beschreibung des Projekts

Allgemeine Lehrinhalte der Ethnozahnmedizin:

Die Basis der Lehrinhalte für Ethnomedizin bilden Fachwissen und Begriffe aus den Bereichen der Zahnmedizin, der Ethnozahnmedizin, der Tropenmedizin sowie der Ethnologie. Vor allem soziokulturelle Hintergründe werden dabei in einen (zahn)medizinischen Kontext gestellt.

Neben faktischem Wissen besteht ein zentraler Aspekt der Ethnozahnmedizin darin das Bewusstsein zu schaffen, dass Zahnmedizin keine alleinige, separate Disziplin ist, sondern immer als Bestandteil der Humanmedizin betrachtet und vermittelt werden muss. Dieses In-Beziehung-setzen der Zahnmedizin zu anderen für sie wesentlichen Wissenschaftsbereichen bricht mit festgefahrenen Denkmustern in der Zahnmedizin und lässt neue Perspektiven zu, die den europäischen Blick auf Zahnästhetik, Zahnpflege und Therapie relativiert. Ethnozahnmedizin bedeutet die Vermittlung von Pluralität und sucht die wissenschaftliche Bereicherung durch die Unterschiede.

Diese pluralistische interdisziplinäre Herangehensweise der Ethnomedizin ermöglicht nicht nur neue Blickwinkel, sondern auch neue Lösungsansätze für konkrete Herausforderungen, die vor uns stehen, wie der Umgang mit stark gestiegener Migration aus anderen Kulturkreisen sowie die immer stärker werdende gesellschaftliche Heterogenität von Gesellschaften auf Grund der Globalisierung. Es geht nicht nur um rein theoretisches Fachwissen, sondern um reale Situationen und die Freude am Forschen und Entdecken der „weißen Flecken“ der Zahnmedizin.

 

Konkrete Lehrbeispiele der Ethnozahnmedizin:

Nachdem der profunde Zugang und Ansatz der Ethnozahnmedizin erklärt und besprochen ist, wendet sich das Seminar konkreten Fragenstellungen zu. So werden im Seminar aktuelle Krankheitsbilder thematisiert, die in Europa bis vor Kurzem noch kaum bekannt waren oder als ausgerottet galten, die aber durch Klimawandel oder Zuwanderung mittlerweile wieder auftreten. Die Studierenden werden mit diesen unterschiedlichen Krankheitsbildern und Krankheitsverläufen anhand von authentischem Bild- und Filmmaterial vertraut gemacht und lernen dann die kulturell verschiedenen Heilungsmethoden kennen.

Eine andere problemorientierte Auseinandersetzung mit der Ethnomedizin stellt der Umgang mit anatomischen Besonderheiten von Personen anderer Kulturkreise dar. Hier begegnen die Studierenden dem Phänomen der „Mehrwurzeligkeit“ bestimmter Zähne, die es laut europäischen Lehrbüchern nicht oder nur sehr selten gibt, die jedoch in anderen Kulturkreisen durchaus häufig anzutreffen sind. Auch kulturell bedingte Modifikationen im Kopf-Hals-Bereich sowie typische tropische Erkrankungen dieses Bereiches und ihre Therapie werden untersucht. Diese anatomischen Besonderheiten werden alle anhand von Zahnabdrücken und anderem Anschauungsmaterial indigener Völker untersucht. Das Wissen um und die Sensibilisierung für solche Besonderheiten bereiten die angehenden Zahnmediziner auf zukünftige Herausforderungen in der Behandlung ethnisch unterschiedlicher Patient*innen vor. Ein weiterer Lehrinhalt, dem sich die Ethnozahnmedizin widmet, ist das kulturell divergierende Schmerzempfinden unterschiedlicher Ethnien und ihre kulturell spezifischen Methoden der Schmerzlinderung.

Auch die unterschiedlichen kulturellen Zugänge und Praktiken der Zahn- und Mundhygiene werden im Seminar untersucht. Der Einsatz von Miswak und Betel in der Zahnhygiene wird dabei ebenso diskutiert und kontextualisiert wie traditionelle abendländische Wirkstoffe wie Pfefferminze und Fluorid. Zudem werden die Studierenden mit echten „Ur-Zahnbürsten“ und anderen Gerätschaften bekannt gemacht, die in fremden Kulturen zum Einsatz kommen. Die Lehrinhalte der Ethnomedizin beschäftigen sich zudem mit kulturell unterschiedlichen Heilungspraktiken und davon abgeleitet mit der Herausforderung einer zahnärztlichen Notfallversorgung, wenn zahnmedizinische Behandlungsgeräte, die im Westen Standard sind, fehlen.

Ein Schwerpunkt der Ethnozahnmedizin stellt schließlich die Zahnästhetik und ihre ethnischen Unterschiede dar. Hierbei geht es darum, den gewohnten reflexartigen eurozentristischen Blick für Zahnschönheit zugunsten einer Offenheit aufzubrechen. Dies geschieht im Seminar anhand von Anschauungsmaterial sowie einer eingehenden Beschäftigung mit der Forschung der verbreiteten Methoden der Körperkunst bzw. der Body Modification. Untersucht werden dabei die teils ausgesprochen kunstvollen Zahndeformierungen/Verzierungen sowie Originalgegenstände wie Lippenscheiben, Ohrpflöcke, Knochenmesser, Zahnschmuck, Zahntrophäen.

 

Studentisches Forschen im Sinne der Ethnomedizin:

Die überdurchschnittlich hohe Nachfrage der Studierenden nach Diplomarbeitsthemen aus dem Bereich der Ethnozahnmedizin zeigt das hohe Interesse an diesem Thema und belegt die enorme Motivationskraft der Lehre der Ethnomedizin zu eigener Forschungstätigkeit. Die Motivation zur Quellenforschung ist bei einigen Studierenden so hoch, dass sie für einen erfolgreichen Abschluss der Diplomarbeiten in Länder wie Tansania, Äthiopien, Kambodscha, Thailand oder Japan reisen, um vor Ort selbständig aktuelle Daten und Informationen für ihre Forschung zu sammeln.

 

Lernen im Dialog: Kulturelle Unterschiede und soziale Verantwortung

Das Seminar der Ethnomedizin setzt bewusst auf dialog-und erfahrungsorientierte Präsenzlehre, die sich-wie neue Forschungsergebnisse belegen-positiv auf die Lernergebnisse auswirkt und zum Mitdenken animiert. Studierende können so klare Verbindungen zwischen den Studieninhalten und der realen Welt herstellen und herleiten, wie ihre neu erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten eingesetzt werden können.

Dem Dialog und der kritischen Diskussion wird im Seminar zur Ethnozahnmedizin sehr viel Platz eingeräumt. Dadurch können Vorurteile ausgeräumt und Denkbarrieren aufgebrochen werden. Die kritischen und teils auch kontroversiellen Diskussionen fördern die Persönlichkeitsentfaltung der angehenden Zahnärzte und vermitteln ihnen wesentliche Sozialkompetenzen und das Wissen um die Bedeutung kultureller Verhaltensweisen.

Unterschiedliche geschlechtsspezifische Behandlungsmethoden aufgrund eines anderen kulturellen Verständnisses setzen ebenfalls Kenntnisse der Ethnomedizin voraus: unterschiedliche Auffassungen über Gleich-/Ungleichberechtigung, Polygamie, Kinderehen, archaische Familienverhältnisse sowie geschlechterspezifisches Rollenverständnis in bestimmten Lebensbedingungen bedürfen - egal wie man sich zu ihnen schlussendlich verhält - des Wissens um die ethnischen und kulturellen Hintergründe. So zum Beispiel auch der Umgang mit und die sinnvolle Verhinderung von rituellen oder vermeintlich „therapeutischen“ Zahnextraktionen (infant oral mutilation) oder anderen Körperdeformierungen, die analog zu Genitalbeschneidungen bei einigen afrikanischen Völkern an Mädchen und Frauen praktiziert werden.

Die Studierenden werden auf ein Arbeiten in einem diversitätsgeprägten Berufsfeld vorbereitet. Es wird ihnen vermittelt, wie weit Zahnmedizin gehen kann und dass es sehr viel mehr zu beachten gibt, als man anfänglich vielleicht meinen mag. Auch die Konfrontation mit der Möglichkeit zahnmedizinischer Noteingriffe und die Erfordernis ärztliches Handeln unter erschwerten Bedingungen und ohne Infrastruktur durchführen zu müssen, bereichern die fachliche und persönliche Kompetenz der Studierenden.

 

Kontext und Aktualität:

Aktualität und größere Bedeutung bekommt die Ethnozahnmedizin durch die zunehmende Migration aus Afrika und dem Nahen Osten sowie durch die Globalisierung unserer Welt. Im Umgang mit diesen Migrationsströmen und mit ethnischer Vielfalt ist eine kritische Haltung und damit auch eine Relativierung des eurozentristischen Blicks auf Zahngesundheit, Ästhetik und die Wirkungsweisen der europäischen Medizin wesentlich. Das Wissen der Ethnozahnmedizin und das Bewusstsein über kulturelle Unterschiede, bereichert den Alltag im zahnärztlichen Ambulatorium der DPU in Krems/Stein. Aufgrund dieses Verständnisses, für die Diversität jedes Menschen, werden kulturelle Barrieren abgebaut und die Bereitschaft für soziale Projekte befeuert.

Nutzen und Mehrwert

Forschungsorientiertes und interdisziplinäres Arbeiten für die Studierenden anhand von Primärquellen und Artefakten. Umfassendere Sicht auf das Studium der Zahnmedizin und Bereicherung dieser Disziplin um ethnische, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte.

Nachhaltigkeit

Nicht nur für die Aus- und Weiterbildung von oralmedizinischen Fachkräften, sondern auch für die humanmedizinischen Berufe aller Fachbereiche und dem medizinischen Personal wird es aufgrund der sich ständig verändernden globalpolitischen Situation, den Klimaveränderungen, der Bevölkerungsexplosion in Teilen Afrikas, Asiens oder dem Nahen Osten, den Kriegen, Pandemien und der damit verbundenen rasant zunehmenden Migration und den Flüchtlingsströmen nach Europa notwendig sein, sich in Zukunft auch auf die Erkennung und Behandlung von zahlreichen neuen oder längst in Vergessenheit geratenen Erkrankungen oder Verletzungen sowie etwaigen kulturellen oder religiösen Besonderheiten der Patienten einzustellen.

Aufwand

Der zusätzliche Aufwand ist auf die Reisekosten für die Forschungsexpeditionen von Dr. Dr. Garve beschränkt, die er jedes Jahr für ungefähr 3 Monate unternimmt.

Positionierung des Lehrangebots

Das Seminar richtet sich einerseits an alle Studierenden der DPU, die im 2. Semester die Lehrveranstaltung „Wissenschaftliches Arbeiten“ absolvieren und das Seminar zur Ethnomedizin als angewandten Teil zur Vorlesung besuchen wollen. Andererseits richtet sich das Seminar an alle Studierenden der DPU, die zum Thema Ethnozahnmedizin ihre Diplomarbeit oder Masterarbeit verfassen wollen.

Links zum Projekt
Das Beispiel wurde für den Ars Docendi Staatspreis für exzellente Lehre 2022 nominiert.
Ars Docendi
2022
Kategorie: Forschungsbezogene bzw. kunstgeleitete Lehre
Ansprechperson
Robert Wagner, MA
Direktor wissenschaftliche Koordination und Management
06766585591
Nominierte Person(en)
Assoz.-Prof. Dr. Dr. Roland Garve
Leiter Ethnozahnheilkunde
Themenfelder
  • Forschung/EEK geleitete Lehre
  • Lehr- und Lernkonzepte
  • Wissenschaftliche (Abschluss)Arbeiten
Fachbereiche
  • Medizin und Gesundheitswissenschaften