Medizinische Universität Wien
Spitalgasse 23, 1090 Wien
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Lehrveranstaltung 3 G – Gewalt, Geschlecht, Gesellschaft

Ziele/Motive/Ausgangslage/Problemstellung

Körperliche, sexualisierte, psychische sowie ökonomische Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richtet, wird als geschlechtsspezifische Gewalt bezeichnet. Sie findet tagtäglich im häuslichen Umfeld und in Situationen statt, die von struktureller Machtungleichheit wie etwa organisationalen Hierarchien sowie finanzieller Abhängigkeit geprägt sind.

Da es sich bei geschlechtsspezifischer Gewalt nicht nur um ein vielschichtiges, dringlich gesellschaftliches, sondern auch medizinisch relevantes Problem handelt, wird in der Lehrveranstaltung eine interdisziplinäre, erfahrungs- und interaktionsbasierte Vermittlung von angewandten, grundlegenden und aktuellen Themen der Gewalttheorie, Gewaltprävention und des Gewaltschutzes in einem offenen und gleichzeitig geschützten Rahmen angeboten.

Ob behandelnde Ärztinnen und Ärzte Verletzungen und Beschwerden als Auslöser bestehender Krankheitssymptome erkennen, ansprechen und in weiterer Folge gerichtsverwertbar dokumentieren, hängt in erster Linie von deren medizinischer Ausbildung ab. Um Opfer bestmöglich unterstützen zu können, ist einschlägiges Wissen über die Hintergründe und die (gesundheitlichen) Auswirkungen von Gewalt notwendig. Damit Betroffene nach ihrer medizinischen Behandlung spezifisch weiterbetreut werden können, sind ebenso Kenntnisse über die verfügbaren regionalen Hilfsangebote erforderlich. Ferner braucht es einen professionellen Austausch darüber, wie ärztlicherseits nach erfolgten Gewaltdelikten vorzugehen ist bzw. was aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen beachtet werden muss. Genau diese Inhalte werden in der Lehrveranstaltung abgedeckt.

Zudem sollen Gewaltereignisse aber auch auf das Strukturelle, das Gesellschaftliche hin erkannt sowie analysiert werden, damit vor dem Hintergrund verschiedener institutioneller Rahmenbedingungen – etwa in Krankenanstalten oder Alten-/Pflegeheimen und in Wirtschafts-organisationen – Handlungskompetenzen im Hinblick auf Gewaltprävention und Umgang mit Gewaltereignissen entwickelt werden können. Mit Hilfe von Planspielen werden Theorie und Praxis verknüpft und das erlernte Wissen angewandt und anschließend reflektiert.

Kurzzusammenfassung des Projekts

Das Seminar vermittelt grundlegende Kenntnisse über Formen und Dynamiken von Gewalt in unterschiedlichen privaten und beruflichen Kontexten. Die inhaltlichen Schwerpunkte konzentrieren sich auf körperliche, sexuelle/sexualisierte, psychische und ökonomische Gewalt. Dabei wird einerseits der Umgang mit körperlichen bzw. verbalen Übergriffen und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, in öffentlichen sowie geschlossenen, geschützten Räumen behandelt. Andererseits wird auch die rechtliche Situation der Betroffenen erörtert und auf entsprechende Unterstützungsangebote/-einrichtungen hingewiesen.

Methodisch werden Inputs der Lehrveranstaltungsleiterin und des Lehrveranstaltungsleiters mit offenen und durch Impuls- und Assoziations- /Reflexionsfragen angeleiteten Diskussionen kombiniert. In verschiedenen durch professionelle Simulationsschauspieler:innen unterstützten Planspielen wird die ärztliche Gesprächsführung in speziellen herausfordernden Situationen – wie Umgang mit Belästigung oder Diskriminierung durch Patient:innen und Vorgesetzte, Erkennen und Ansprechen von unspezifischen oder verdeckten Formen von physischer/psychischer Gewalt bei Patient:innen – mit den Kursteilnehmer:innen geübt und anschließend in gemeinsamen Fallanalysen differenziert und sensibel aufgearbeitet. Der Verarbeitung und Besprechung des Erlebten bzw. Beobachteten wird in der darauffolgenden Lehrveranstaltungseinheit noch einmal Raum gegeben.

Kurzzusammenfassung des Projekts in englischer Sprache

The seminar provides basic knowledge about forms and dynamics of violence in different private and professional contexts. The content focuses on physical, sexual/sexualized, psychological and economic violence. On the one hand, dealing with physical or verbal assaults and sexual harassment at the workplace, in public as well as in closed, protected spaces is dealt with. On the other hand, the legal situation of those affected is also discussed and appropriate support services/facilities are pointed out.

Methodically, inputs from the course instructor are combined with open discussions guided by impulse and association/reflection questions. In various simulation games supported by professional simulation actors, the medical discussion in special challenging situations – such as dealing with harassment or discrimination by patients and superiors, recognizing and addressing unspecific or hidden forms of physical/psychological violence, etc. – is practiced with the course participants and then dealt with in a differentiated and sensitive manner in joint case analyses. The processing and discussion of what has been experienced or observed is given further space in the following course unit.

Nähere Beschreibung des Projekts

Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich inhaltlich an die Kurzzusammenfassung anknüpfend:

  • Das Seminar eröffnet für angehende Mediziner:innen, aber auch für Studierende der Soziologie und Psychologie, einen Raum, um sich ein tiefergehendes theoretisches wie praktisches Verständnis für geschlechtsspezifische Gewaltdynamiken im organisationalen und gesellschaftlichen Kontext anzueignen (etwa zu betrieblichen und ökonomischen Geschlechterhierarchien, sozialen Abhängigkeiten und Asymmetrien, statistischen Prävalenzen und Mustern der Viktimisierung etc.);
  • Fähigkeiten im Umgang mit Gewaltbetroffenen als Schlüsselkräfte im ambulanten oder stationären Bereich auf- bzw. auszubauen und dazu beizutragen, Gewalt zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen (z.B. durch die korrekte Vornahme von körperlichen Untersuchungen, Spurensicherung und forensische Dokumentation nach Gewaltereignissen unter Einbeziehung eines standardisierten Verletzungsdokumentationsbogens sowie eines in den Krankenanstalten des Wiener Gesundheitsverbundes sowie in Wiener Privatspitälern in Einsatz befindlichen Spurensicherungssets);
  • Gewaltschutz besser verstehen und im zukünftigen beruflichen Alltag umsetzen zu können (Kenntnis über Opferschutzgesetze und Opferrechte, ärztliche Melde- und Anzeigepflichten, Beratungsstellen/Gewaltschutzinstitutionen).
  • In der Lehrveranstaltung „3 G – Gewalt, Geschlecht, Gesellschaft“ werden zum einem grundlegende wissenschaftliche Kenntnisse aus der Gewalt- und Genderforschung sowie Institutionen- und Organisationanalysen vermittelt. Zum anderen können die erlernten theoretischen Inhalte im Rahmen der ärztlichen Gesprächsführung sowie bei der Vornahme einer fiktiven körperlichen Untersuchung von Gewaltopfern anhand eines Verletzungsdokumentationsbogens samt Spurensicherung auch praktisch geübt werden.

Ablauf und Inhalte:

  • Vorlesung 1: Organisatorisches, Einführung in die Thematik
  • Vorlesung 2: Gewalt als gesellschaftliches und geschlechts-spezifisches Phänomen, Gewalt und Medizin
  • Vorlesung 3: Körperliche, sexuelle und sexualisierte Gewalt –Prävalenzen, medizinische Untersuchung und forensische Dokumentation, Verletzungsdokumentationsbogen
  • Vorlesung 4: Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz –organisationale Bedingungen, Fallkonstellationen und Rechtsschutz Gastvortrag Mag.a Bianca Schrittwieser
  • Vorlesung 5: Planspiele und Fallanalysen
  • Vorlesung 6: Ökonomische und strukturelle Gewalt – Abhängigkeiten und Asymmetrien - Mehrebenenanalyse und Handlungsmöglichkeiten; Psychische, emotionale/affektive Gewalt, Ansprechen von Gewalt
  • Vorlesung 7: Gewaltschutz – Rechte, Pflichten, Institutionen, Strategien und Maßnahmen; Zusammenführung und Abschluss

Für die schriftliche Abschlussprüfung werden den Teilnehmer:innen des Seminars Unterlagen zeitnah zu den einzelnen Vorlesungen zur Verfügung gestellt. Diese werden gleichfalls für Interessierte zum Nachlesen downloadbar sein unter: gerichtsmedizin.meduniwien.ac.at/studiumaus-und-weiterbildung/3-g-gewalt-geschlecht-gesellschaft/

Nutzen und Mehrwert

Der Mehrwert des Lehrprojekts liegt in der interdisziplinären und interaktionsbasierten Vermittlung von abstrakten Erkenntnissen und schwierigen Praxisfragen, etwa, dass Organisationen und Wahrnehmungsweisen vergeschlechtlicht sind, unterschiedliche Gewaltformen ermöglicht/begünstigt oder auch verhindern werden können und Gewaltschutz Aufklärung, spezifische Vorkehrungen und aktives Handeln auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene erfordert. Dabei wird auf die organisationale Rolle und gesellschaftliche Verantwortung von Mediziner:innen sowohl in der Gewaltprävention als auch im Gewaltschutz besonders und umfassend Bezug genommen.

Nachhaltigkeit

Das Projekt soll dauerhaft in das Lehrangebot der Medizinischen Universität Wien, perspektivisch auch in das Lehrangebot anderer Universitäten und Fachhochschulen, übernommen und verankert werden.

Dissemination/Transfer

Um ein Zeichen gegen häusliche Gewalt zu setzen, soll nicht nur in der Lehrveranstaltung für das Thema der häuslichen Gewalt sensibilisiert werden, sondern auch über diese hinaus. Deshalb werden die Lehrveranstaltungsteilnehmer:innen eingeladen, ihre eigenen Assoziationen und Überlegungen zu Gewalt auf eine sogenannte „Eine-von-fünf“-Karte zu schreiben (https://gerichtsmedizin.meduniwien.ac.at/studium-aus-und-weiterbildung/eine-von-fuenf/).

Institutionelle Unterstützung

Durch die Übernahme der Honorarkosten für spezialisierte Schauspieler:innen.

Links zu der/den Projektmitarbeiter/innen
Das Beispiel wurde für den Ars Docendi Staatspreis für exzellente Lehre 2023 nominiert.
Ars Docendi
2023
Kategorie: Kooperative Lehr- und Arbeitsformen
Ansprechperson
Andrea Berzlanovich, ao. Univ.-Prof.in Dr.in
Zentrum für Gerichtsmedizin der Medizinischen Universität Wien
+43 1 40 160 35660
Nominierte Person(en)
Christian Berger, BA MSc LLM
AK Wien – Wirtschaftspolitik
Andrea Berzlanovich, ao. Univ.-Prof.in Dr.in
Zentrum für Gerichtsmedizin der Medizinischen Universität Wien
Themenfelder
  • Diversität und Soziales
  • Erfahrungslernen
  • Kooperationen in der Lehre
  • Lehr- und Lernkonzepte
  • Schnittstelle zum Arbeitsmarkt
Fachbereiche
  • Medizin und Gesundheitswissenschaften
  • Wirtschaft und Recht
  • Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften