Medizinische Universität Wien
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Public Health für Humanmediziner*innen: innovative Lehrstrategien für die öffentliche Gesundheit im von Krisen gebeutelten 21. Jahrhundert

Ziele/Motive/Ausgangslage/Problemstellung

Zahlreiche globale Krisen wie die Erderwärmung, Migration und nicht zuletzt die COVID-19-Pandemie machten es notwendig, den Lehrplan für Public Health, wie er Medizinstudent*innen bisher vermittelt wurde, neu zu konzipieren. In Zusammenarbeit mit Medizinstudent*innen wurde im akademischen Jahr 2020/2021 ein neues Konzept für die Vermittlung von Public Health an Medizinstudent*innen entwickelt, um die Mediziner*innen der Zukunft auch auf die Gesundheitsprobleme der Zukunft vorzubereiten. Dabei wurde wurde auf Aspekte der Arbeit mit verschiedenen Communities ein besonderes Augenmerk gelegt, um die Realität der zukünftigen Arbeit von Ärzt*innen, die mit verschiedenen Patientengruppen arbeiten werden, besser widerzuspiegeln. Das Gesamtziel des Projekts bestand darin, das Thema Gesundheit in einem gegenwärtig relevanten breiteren Rahmen zu betrachten und über die rein biomechanische Sichtweise hinauszugehen.

Kurzzusammenfassung des Projekts

Public Health ist die Wissenschaft und Praxis der Prävention von Krankheiten, der Förderung der Gesundheit und der Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen durch organisierte gesellschaftliche Anstrengungen. Die Hauptaufgabe der Public Health besteht also darin, potenzielle Gesundheitsgefahren zu analysieren und zu erkennen und Maßnahmen zu entwickeln, um diesen entgegenzuwirken. Als interdisziplinäres Fachgebiet betrachtet Public Health die Gesundheit der Menschen unter Berücksichtigung der sozialen, physischen und psychischen Determinanten der Gesundheit und konzentriert sich dabei auf die gesellschaftlichen Strukturen und wie diese unsere Entscheidungen und unser Verhalten beeinflussen. Darüber hinaus werden die Studierenden eingeladen, an speziellen Einheiten teilzunehmen, die darauf abzielen, durch innovative Methoden außerhalb des Klassenzimmers praktische Erfahrungen im Bereich Public Health zu sammeln, z. B. Besuche bei verschiedenen Organisationen, Kontakt mit marginalisierten Patientengruppen, Führungen durch verschiedene Stadtviertel oder praktische Erfahrungen mit Methoden und Techniken, die im Bereich Public Health eingesetzt werden. Dies bot den Studierenden zusätzliche Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln und ihr Interesse für das Fachgebiet zu fördern.

Kurzzusammenfassung des Projekts in englischer Sprache

Public Health is the science and practice of preventing disease, promoting health, and improving the quality of life for all people through organized societal efforts. Thus, the main task of Public Health is to analyze and identify potential health threats and develop measures to counteract them. As an interdisciplinary field, Public Health looks at human health by considering the social, physical, and psychological determinants of health, focusing on social structures and how they influence our choices and behaviors. In addition, students are invited to participate in special units designed to provide hands-on experience in Public Health through innovative methods outside of the classroom, such as visits to various organizations, contact with marginalized patient populations, tours of various neighborhoods, or hands-on experience with methods and techniques used in Public Health. This provided additional opportunities for students to gain experience and further their interest for the field.

Nähere Beschreibung des Projekts

Insgesamt ist der Block Public Health in 4 übergreifende thematische Kapitel gegliedert, die eine Vielzahl von Themen umfassen. Die Kapitel geben den Studierenden einen Überblick über verschiedene Aspekte und Fachgebiete von Public Health, dazu gehören Kapitel:

• Kapitel 1. "Gesundheitssysteme, Medizinrecht und Ethik im Gesundheitswesen" finden Sie neben der Einführungsvorlesung und dem historischen Überblick (Thema 1: "Einführung in Public Health") Vorträge zu den Grundlagen der Erforschung und Funktionsweise des Gesundheitssystems (Thema 2 "Gesundheitssysteme"), zu rechtlichen Regelungen für die Arbeit im Gesundheitswesen (Thema 3 "Medizinrecht"), und zur Ethik - sowohl aus der individuellen Arbeitsperspektive als auch im Gesundheitssystem (Thema 4 "Ethik im Gesundheitssystem").

• Kapitel 2 "Public Health Methoden" wird ein Überblick über grundlegende Methoden und Werkzeuge im Bereich Public Health gegeben, darunter angewandte und klinische Epidemiologie (Thema 1), Gesundheitsökonomie (Thema 2), Health Policy Forschung und evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (Thema 3).

• Kapitel 3 "Präventivmedizin" befasst sich mit Hauptaspekten der Präventivmedizin und umfasst Kapitel zur Prävention und Gesundheitsförderung (Thema 1), Gesundheitspsychologie und Lebensstilmodifikation (Thema 2), Arbeits- und Umweltmedizin (Themen 3 und 4), Impfungen und Reisemedizin (Thema 5) und Rehabilitation als eine Form der Tertiärprävention (Thema 6).

• Kapitel 4 "Gesundheitsversorgung in einer vielfältigen Welt" werden Vorlesungen über die Arbeit mit vulnerablen Bevölkerungsgruppen, einschließlich Migranten, Obdachlose Menschen, sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten (LGBTIQ+), sowie über globale Gesundheitsfragen (Thema 1) und über ältere Erwachsene durch Vorlesungen zu Fragen der Geriatrie und Gerontologie (Thema 2) angeboten.

 

Die Student*innen haben insgesamt 100 akademische Stunden, die sich in 79 Stunden Vorlesungen und 21 Stunden praktische Seminare aufteilen. Zusätzlich werden den Student*innen verschiedene andere Einheiten angeboten, in denen sie ihr Wissen über einige Aspekte der Public Health vertiefen können. Diese Themen umfassen:

 

1. Mangelernährt? Wer ist mangelernährt und ist die Messung des Body-Mass-Indexes von gestern? Die Vermessung der Bevölkerung – ist das überhaupt möglich? Hier könnt ihr etwas mehr über die Public Health Nutrition erfahren und verschiedene Methoden zur Bewertung des Ernährungszustands sowohl bei einzelnen Patienten als auch in großen epidemiologischen Studien ausprobieren.

 

2. Eine Pandemie wie keine andere: HIV-Prävention und psycho-soziale Unterstützung von Menschen mit HIV/AIDS in Österreich. Ein Besuch bei der AIDS-Hilfe. Hier könnt ihr mehr über die HIV-Epidemiologie in Österreich und über die verschiedenen Aktivitäten im Public Health Bereich, die in Österreich zur Förderung von Safer Sex und zur Prävention verschiedener sexuell übertragbarer Krankheiten durchgeführt werden, erfahren. Wir werden auch eine kurze Diskussion über die psychosoziale Unterstützung von Patient*innen mit HIV/AIDS mit Expert*innen der AIDS-Hilfe führen.

 

3. Das Nordbahnviertel. Eine Gegenwert des sozialen Wohnbaus. Wie funktioniert leistbarer Wohnraum im 21. Jahrhundert? Welche Merkmale von Stadtvierteln für eine gute Gesundheit und Gesundheitsförderung wichtig sind und wie die Grundlagen von Urban Health aussehen.

 

4. Der Narrenturm. Eine Führung durch die pathologisch-anatomische Sammlung. Ein Spaziergang durch die Geschichte von Public Health in Österreich. Der Narrenturm ist ein bedeutendes Denkmal zur Geschichte der Krankenversorgung und der Medizin im ausgehenden 18. Jahrhundert. Gegründet wurde er 1784 für die Pflege von psychisch kranken Menschen. Wie haben sich Pathologie und Krankheitsgeschichten historisch entwickelt und was ist da heute für uns relevant, um Gesundheit zu fördern? Findet es in dieser spannenden Aktivität heraus.

 

5. Am Rande der Gesellschaft: Gesundheitsversorgung für unversicherte Patient*innen in Österreich. Ein Besuch bei AmberMed. Wie funktioniert die Gesundheitsversorgung für Patient*innen, die keine Kranken- oder Sozialversicherung haben? Welche kulturellen Aspekte sind bei der Arbeit mit Migrant*innen aus der ganzen Welt wichtig? Was ist bei der Arbeit mit obdachlosen Patient*innen zu berücksichtigen? Das sind nur einige der interessanten Fragen, die wir bei einem Besuch und einer Diskussion bei AmberMed erörtern werden.

 

6. Rauchfrei - eine praktische Einführung in die Raucherentwöhnungstherapie Rauchen, eines der wichtigsten Probleme der gegenwärtigen Public Health. Wie könnt ihr das Nichtrauchen bei euren Patient*innen wirksam fördern, und wie sieht eine Therapie zur Raucherentwöhnung aus? Welche diagnostische Tests werden eingesetzt? Welche Mittel können zur Unterstützung der Patient*innen eingesetzt werden? All dies und mehr erfahren Sie in diesem praxisorientierten Workshop.

 

7. Sportmotorische Tests - was ist ohne viele Hilfsmittel umsetzbar und trotzdem aussagekräftig? Wie lässt sich die funktionelle Kapazität von Patienten leicht messen? Welche Funktionstests könnt ihr verwenden? Welche Übungen könnt ihr euren Patienten empfehlen, die wenig oder gar keine Ausrüstung erfordern? Zieh die Turnschuhe an and let´s get moving!

 

8. Spill the tea - ein Gespräch mit dem Blockkoordinations-Team. Hast du etwas Bestimmtes auf dem Herzen? Würdest du gerne was sagen? Möchtest du sagen, was wir besser machen könnten? Willst du uns nur sagen, wie toll alles war? Willst du mehr darüber erfahren, was das Blockkoordinations-Team macht, oder vielleicht willst du einfach nur einen kostenlosen Kaffee oder Tee? Komm zu einer Feedback-Runde.

 

9. Ein außergewöhnlicher Einblick in das Leben von obdachlosen Menschen in Wien. Bei diesem Stadtspaziergang lernt Ihr das Leben von obdachlosen Menschen, die normalerweise unsichtbar sind und im Schatten der Großstadt leben, in Wien kennen. Ihr erfahrt mehr darüber, wie soziale Härten die Gesundheit beeinflussen und lernt aus erster Hand, was für Obdachlose wichtig ist. Ziel: Komplexität der Obdachlosigkeit wahrzunehmen, Sensibilität für Patientengruppen mit erhöhtem Versorgungsbedarf zu entwickeln. Warum: „Für mich war diese persönliche Begegnung mit von Obdachlosigkeit betroffenen Personen entscheidend für meine tägliche Praxis. Plötzlich nahm ich diesen fordernden und lauten Ton der Menschen mir gegenüber nicht mehr als Ausdruck von Aggression wahr, sondern als die erlernte Überlebensstrategie meiner Patienten.“ Dr.in Gomez Pellin Mit wem: SHADES TOURS organisiert in Wien und Graz bewegende Touren zu den gesellschaftlich polarisierenden Themen: Armut & Obdachlosigkeit, Flucht & Integration und Sucht & Drogen. Das Besondere an diesen Führungen sind die Guides selbst: sie sind von der entsprechenden Thematik betroffen und können somit persönliche Einblicke vermitteln. Dadurch können Fakten zum Thema mit individuellen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden und den Teilnehmer*innen wird das Eintauchen in eine unbekannte Lebenswelt ermöglicht. Neben der sozial-politischen Bildung der Teilnehmer*innen ist die (Re- )Integration der Guides in den Arbeitsmarkt ein primäres Ziel dieser Touren.

 

10. Public Health Assis- what are they good for? Hast du dich jemals gefragt, warum es Ärzt*innen gibt, die sich für Public Health spezialisieren? Würdest du gerne mehr über uns erfahren? Denkst du vielleicht über eine spannende und vielseitige Karriere im Public Health nach? Komm zu einem Gespräch über das coolste Fach in der Medizin und das einzige, das über Systemen und nicht über Individuen nachdenkt.

 

Diese Aktivitäten sind nach dem Prinzip "wer zuerst kommt" organisiert und wurden mit einer begrenzten Anzahl von Teilnehmer*innen durchgeführt. Neben ihrem didaktischen Zweck dienten die Aktivitäten auch dazu, den Student*innen in den Zeiten, in denen sie überwiegend im Distance Learning Modus waren, mehr Kontakt untereinander und mit den Lektor*innen zu ermöglichen, und wurden daher unter strikter Einhaltung aller relevanten COVID-Maßnahmen durchgeführt. Insgesamt nahmen 153 (22 %) Student*innen des 7. Semesters an diesen Aktivitäten teil, wobei viele Student*innen an mehr als einer Aktivität teilnahmen. Die Student*innen wurden gebeten, über ihre Erfahrungen zu reflektieren, welche im Anschluss in kleineren Gruppen diskutiert wurden. Student*innen, die teilgenommen haben, erhielten 1 zusätzlichen ECTS-Punkt für ihr Kontingent an Wahlpflichtfächern.

 

Ab dem nächsten akademischen Jahr (2022/2023) wird der Public Health Block mehr partizipativ didaktische Lehrmethoden (wie Seminare und praktische Arbeiten und weniger Frontalvorlesungen) umfassen, einschließlich des Selbstlernens durch E-Learning-Methoden. Diese Entwicklung erfolgt auch nach sorgfältiger Prüfung der Bewertungen von den Studierenden und deren Vorschläge für zusätzliche Änderungen. Darüber hinaus werden wir als neuen didaktischen Ansatz ein "freies Praxisseminar" einführen, bei dem die Student*innen ein Praxisseminar ihrer Wahl wählen können, um ihr Wissen über bestimmte Aspekte, die sie lernen möchten, zu vertiefen. Diese werden flexibel organisiert und beinhalten so viele „außerhalb des Klassenzimmers“ Einheiten wie möglich.

 

In Bezug auf die Lernmaterialien haben wir in Absprache mit den Student*innen und auf deren Wunsch nach flexiblem Lernen mehrere Änderungen vorgenommen, darunter:

1. Ein Moodle-Kurs, der eine vollständige Organisationsstruktur des gesamten Public Health-Blocks bietet.

2. Vollständige Materialien zu allen Vorlesungen (Folien und zusätzliche Texte), die während des Blocks präsentiert werden, zu Verfügung gestellt

3. Videoaufzeichnungen aller Vorlesungen (um den Studierenden einen besseren Zugang zu den Materialien zu ermöglichen und ihnen die Möglichkeit zu geben, die Vorlesungen zu einem frei gewählten Zeitpunkt oder einfach noch einmal anzusehen)

4. Listen mit zusätzlichen Materialien und neuen Lernmaterialien wie Weblinks zu Podcasts, YouTube-Videos, Webinaren us

Nutzen und Mehrwert

Der Mehrwert liegt in der Entwicklung wesentlicher Kenntnisse und Fähigkeiten für künftige Gesundheitsfachkräfte. Diese betreffen vor allem Aspekte struktureller Gesundheitsfaktoren, zeigen aber auch spezifische Probleme auf, mit denen verschiedene Patientengruppen täglich konfrontiert sind und die ihre Gesundheit, aber auch die Arbeit unserer künftigen Kolleg*innen beeinflussen.

Nachhaltigkeit

Das Konzept wurde mit großem Erfolg umgesetzt und wird auch weiterhin jedes Jahr im 7. Semester des Curriculums Humanmedizin durchgeführt. Allerdings werden, wie bereits erwähnt, die Unterrichtseinheiten und Themen auf der Grundlage des Inputs der Student*innen kontinuierlich geändert und weiterentwickelt. Für das nächste Jahr werden wir ein neues Praxisseminar "Klimawandel und Gesundheit" und das bereits erwähnte "freie Praxisseminar" einführen.

Der Erfolg unseres Konzepts liegt in der aktiven Einbindung der Student*innen und der Berücksichtigung ihrer Anregungen, die wir ernst nehmen. Die Student*innen sind auch eingeladen, gemeinsam neue Ideen und Themen für das Lehren und Lernen zu entwickeln. Diese Aspekte lassen sich leicht auf andere Curriculumelemente übertragen.

Aufwand

Finanzielle Mittel: Mit rund 600 Euro wurden die Kosten für Material und Eintrittskarten für organisierte Touren gedeckt.

Kollegiale Ressourcen: Hinzu kommt der zusätzliche Zeitaufwand für die Vorbereitung und Durchführung der zusätzlichen Workshops, der sich auf durchschnittlich 4 Stunden für den gesamten Block (6 Wochen) pro teilnehmenden Lektor*innen beläuft.

Positionierung des Lehrangebots

Das Angebot richtet sich an alle Medizinstudent*innen im 7. Semester des Studiengangs N202 (Diplomstudium Humanmedizin). Im Studienjahr 2021/2022 umfasste dies 674 Student*innen.

Links zum Projekt
Das Beispiel wurde für den Ars Docendi Staatspreis für exzellente Lehre 2022 nominiert.
Ars Docendi
2022
Kategorie: Kooperative Lehr- und Arbeitsformen
Ansprechperson
Igor Grabovac, Priv.-Doz. Dr.med. Dr.scient.med.
Zentrum für Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin
01-40160-34897
Nominierte Person(en)
Igor Grabovac, Priv.-Doz. Dr.med. Dr.scient.med.
Zentrum für Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin
Themenfelder
  • Curriculagestaltung
  • Diversität und Soziales
  • Erfahrungslernen
  • Flexibel Studieren
  • Lehr- und Lernkonzepte
Fachbereiche
  • Medizin und Gesundheitswissenschaften