Junge Musiker*innen im Spannungsfeld zwischen Kompetenzerwerb, Corona-Beschränkungen und sozialer Einbindung im Sinne ihres gesellschaftlichen Auftrags

Ziele/Motive/Ausgangslage/Problemstellung

Die Motivation für dieses Projekt ergab sich zunächst aus der speziellen „Isolations-Lage“ in welche alle Künstler*innen mit Ausbruch der Pandemie gerieten. Ich suchte nach Möglichkeiten, meine Studierenden weiter zu besten Leistungen zu motivieren und ihnen ihren trotz allem bestehenden Auftrag für gesellschaftliches Wirken vor Augen zu führen. Es gab von Anfang an zwei grundsätzliche Ziele: erstens, die Studierenden für ein konzentriertes, von Optimismus getragenes, weiteres Studium zu begeistern und zweitens, in einem - angesichts der zwingend notwendigen Pandemiebeschränkungen dennoch möglichen - Ausmaß Kunstausübung sicht- und hörbar zu machen.

Kurzzusammenfassung des Projekts

Das zukunftsweisende Ziel dieses Projektes ist, dass sich junge Musiker*innen trotz der durch die Corona-Pandemie-Beschränkungen seit vielen Monaten eingeengten und demotivierenden Situation in ihrer Selbstreflexion weiterentwickeln und durch den virtuellen Kontakt zu Adressaten ihrer Kunstausübung ein Feedback bekommen, das sie als angehende Künstler*innen beflügelt und vorwärts bringt. Unabhängig von ihrem konkreten Studienfortschritt besitzt jede/r Musikstudierende bereits mit Eintritt in das Studium die notwendigen Fähigkeiten, um öffentlich präsent und als Kulturträger wirksam zu sein. Durch die kreative Einbindung dieses Potentials in ein Konzept der Musikvermittlung an eine Bevölkerungsschicht, deren Ausmaß variabel und unbeschränkt ist, ergibt sich einerseits ein Motivationsschub für die Studierenden und andererseits eine gesellschaftliche Bereicherung für Menschen, (insbesondere ältere Mitbürger*innen), die infolge der Pandemie von jeder normalen Kulturrezeption getrennt wurden.

Kurzzusammenfassung des Projekts in englischer Sprache

The forward-looking aim of this project is to develop for young musicians their self-reflection, despite the narrow and demotivating situation caused by the corona pandemic restrictions for many months, and to receive feedback through virtual contact with the consignees of their artistic practice that they as budding artists are inside inspired and keep developing. Regardless of their specific course progress, every music student already has the necessary skills to be publicly present and effective as a cultural bearer by entering the course. By creatively integrating this potential into a concept of music communication to a part of the population, the extent of which is variable and unrestricted, on the one hand there is a motivation boost for the students and on the other hand a social enrichment for people (especially older citizens) who have suffered as a result of the pandemic situation and were separated from any normal culture reception.

Nähere Beschreibung des Projekts

Die Ausgangslage

 

Im Studiengang des Instrumentalstudiums an österreichischen Kunstuniversitäten wird sehr viel Wert auf eine an höchsten künstlerischen Standards orientierte, praxisbezogene Ausbildung gelegt. Junge Musiker*innen, die einen der begehrten Studienplätze anstreben, müssen sich in Form von künstlerischen Zulassungsprüfungen einem harten Auswahlprozess stellen. Von Beginn des Studiums an spielt die Darbietung im Unterricht erarbeiteter Werke der Musikkultur aus Vergangenheit und Gegenwart vor einer öffentlichen Zuhörerschaft eine große Rolle und bildet ein wesentliches Bewertungskriterium für die jährlichen Zwischen-prüfungen im Bereich des Zentralen künstlerischen Fachs (ZKF). Dabei ist festzustellen, dass grundsätzlich alle Studierenden (egal ob im ersten oder letzten Semester), die Befähigung zum öffentlichen Auftreten, sprich: eine künstlerische Bühnenpräsenz, als Teil ihrer persönlichen Begabung von Anfang an mit einbringen müssen. Der individuelle Studienfortschritt manifestiert sich in der Erarbeitung von musikalischem Repertoire verschiedenen technischen Schwierigkeitsgrades und unterschiedlicher künstlerischer Dimension. Das heißt: jüngere Studierende werden dazu geführt, weniger komplexe musikalische Werke mit denselben hohen Ansprüchen an die Qualität der instrumental-technischen Ausführung und geistigen Durchdringung zu erlernen, wie ältere Studierende ein entsprechend komplizierteres und schwieriger zu erfassendes Repertoire. Der Fokus liegt immer darauf, dass die Darbietung musikalischer Kunstwerke durch die geistige Erarbeitung und Reflexion der Interpreten für Zuhörer verständlich und emotional nacherlebbar gemacht werden sollte. Interpretationskunst ist in hohem Maß durch die Verbindung von individuellem Ausdruckswillen mit den erlernten Fertigkeiten bei der freien Beherrschung des gewählten Instrumentes sowie dem angeeigneten und durch Erfahrung erworbenen Wissen über die Musikkultur und den Klang als Ausdrucksträger gekennzeichnet. Noch mehr als in anderen Künsten sind die Musiker*innen also auf den direkten Kontakt mit dem Publikum/Zuhörer*innen angewiesen, um einen Sinn in ihrer Tätigkeit zu sehen.

 

In der seit März 2020 ohne Vorwarnung hereingebrochenen Situation sahen sich die jungen Musikstudierenden nicht nur von heute auf morgen um jede Chance des – für viele von ihnen zur Stützung des Lebensunterhalts notwendigen - Gelderwerbs gebracht, sondern es griff auch angesichts der spürbaren existentiellen Bedrohung vielfach ein Motivationsverlust um sich. Wozu am Instrument sitzen, wenn das eigentlich scheinbar niemand braucht? Mit der Einschränkung sozialer Kontakte entfielen zugleich diverse gemeinsame Projekte im Kammermusik- und Orchesterspiel, die für die Stärkung von sozialer Kompetenz bei den jungen Musiker*innen in normalen Zeiten enorme Wichtigkeit besitzen. In meiner Ausbildungsklasse Instrumentalstudium Violoncello befinden sich derzeit Studierende aus Österreich, Ungarn, Italien, Deutschland, der Ukraine, China, Taiwan, Thailand, Peru, Chile, der Türkei und dem Iran. Meine letzten Absolvent*innen kamen aus Spanien, Serbien, Frankreich, Kroatien, Korea und Japan. Ich sehe es immer als besonders spannende Aufgabe an, aus all diesen Menschen mit ihren sehr verschiedenen Vorgeschichten ein für mehrere Jahre als homogene Gruppe agierendes Kollektiv zu formen und ich lege beständig großen Wert auf ein Klima gelebter Kollegialität und gegenseitiger Wertschätzung innerhalb der Klasse, in welchem „Kritik“ einen positiven Begriff darstellt. Meine Unterrichtssprachen sind deutsch, russisch, englisch und spanisch.

 

Motivation, Ziele & Öffentlichkeitswirkung

 

In der angespannten Situation des Frühjahres 2020 besann ich mich zunächst auf die Möglichkeiten des digitalen Raumes; später begann ich auch weitere machbare Aktivitäten auszuloten.

Durch meine mehr als 50jährige eigene künstlerische Tätigkeit als Cellosolistin und Kammer-musikerin hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein im wahrsten Sinne des Wortes weltumspannendes Netzwerk aus ähnlich gesinnten Musikern, Künstlern und treuen Zuhörern gebildet. Es reicht von Chile über Brasilien, die USA, Saudi-Arabien, die Türkei, über ganz Europa bis nach Sibirien und Japan. Auf dieses Netz wurde mein Projekt aufgebaut. Schrittweise begann ich von den Studierenden Aufnahmen der erarbeiteten Werke zu erstellen, hier und da wurde bei Fehlern und Irrtümern geschnitten und korrigiert, um präsentable Filme daraus zu produzieren. Die Studierenden lernten auch, vor allem am Anfang, als besonders rigorose Kontakteinschränkungen galten, mit den vom Korrepetitor einzeln aufgenommenen und übersandten Klavierbegleitungen zusammenzuspielen. Im Internet erwarb ich für die Studierenden Blanco-Orchesterbegleitungen zu einzelnen, zu erarbeitenden Werken, damit die jungen Musiker*innen in ihren Zimmern mit Begleitungen üben konnten bzw. können. In der warmen Jahreszeit zogen wir auf der Suche nach leben-digen Hörern mit einigem Erfolg in Grazer Hinterhöfe und den Vorgarten eines Altersheims in der Südsteiermark, (aus Datenschutzgründen konnten diese Auftritte nicht bildlich veröffentlicht werden).

Sämtliche „fertigen“, sozusagen „vorspielreifen“ Leistungen der Studierenden lud und lade ich seitdem in eine gemietete 1 -TB - Cloud, von wo sie jeweils für alle Mitstudierenden, die Freunde und Verwandten rund um den Erdball, mehrere hundert potentielle Hörer und Interessenten der von mir seit 2016 initiierten Konzertreihe „Arte classica Wildon“ und mein umfassendes Künstler-Netzwerk über Links zum Anhören und Herunterladen zur Verfügung stehen.

An 85 Adressen älterer Mitbürger*innen, die nicht über eine Internet-Verbindung, sehr wohl aber über Fernsehgeräte mit entsprechendem Equipment, verfügen, ergingen USB-Sticks bzw. DVDs mit solchen Aufnahmen. Nach Absprache mit den beteiligten Studierenden waren all diesen Zusendungen auch die Telefonnummern der betreffenden Musiker*innen mit einigen Zeilen der Ermutigung Rückäußerungen abzugeben, beigelegt. Es gab bereits begeisterte Rückmeldungen auf diese Aktionen und viel Zuspruch für die durchwegs jugendlichen Akteure.

 

In einem Fall konnte ich ein älteres Ehepaar dafür gewinnen, einer sehr begabten, materiell relativ schlecht gestellten Achtzehnjährigen in Form einer Patenschaft monatlich mit dem Betrag von 50 € finanziell unter die Arme zu greifen. Als Gegenleistung wurde neben regel-mäßigen musikalischen Zusendungen ein persönliches Konzert jährlich vereinbart.

 

In vier Fällen konnte ich erwirken, dass sehr talentierten Studierenden mit limitiertem materiellem Hintergrund und dementsprechend mittelmäßigen Instrumenten aus Privat-hand Violoncelli zur Verfügung gestellt wurden, die ihnen bessere Entwicklungschancen bieten.

 

Vom Gedanken an sogenannte Live-Streaming-Konzerte habe ich mich – infolge der monatelangen Erfahrungen beim Online-Teaching - sehr schnell entfernt, da aufgrund von zu wenig leistungsfähigen Internetverbindungen sowohl bei den jungen Musikstudierenden als auch bei den potentiellen Rezipienten dabei eine viel zu schlechte Bild- und Klangqualität transportiert wird und dadurch letztlich kein Genuss entsteht. Durch die Download-Funktion in meiner Cloud ist es im Gegensatz dazu möglich, heruntergeladene Musikfilme auch ohne aktive Internetverbindung wiederholt anzuschauen.

 

Mit Eintreten des zweiten und dritten Lockdowns ab November 2020 fielen die Studierenden nicht mehr in ein Loch der Desorientierung. Natürlich wurde und wird es bedauert, dass plötzlich wieder jegliche persönlichen künstlerischen Aktivitäten per Anordnung untersagt waren. Jedoch wird das beschriebene Projekt beständig weitergeführt und vervollkommnet und es hat bei den einzelnen Studierenden bereits zu bemerkenswerten persönlichen Reifungsprozessen und künstlerischen Qualitätszuwächsen beigetragen.

Als Künstlerin, die vor Jahrzehnten selbst ihre Ausbildung in Weimar und Moskau erhielt, bin ich mir der bewusstseinsbildenden Rolle, welche der in den Ausbildungsjahren vorherrschende Geist für die jungen Musiker*innen ihr ganzes Leben lang spielen wird, durchaus bewusst. Sie sollen nach Jahren, von Österreich Abschied nehmend, sich auf immer an das erinnern, was ihnen hierzulande vermittelt wurde und werden dadurch befähigt, es auf ihre eigene Weise weiterzugeben.

Nutzen und Mehrwert

Der Mehrwert des Projektes entsteht aus der Aufgabenstellung. Durch die sozialen Kontaktbeschränkungen ab März 2020 ergab sich insbesondere für Musikstudierende, deren tägliche Studienleistung zu einem hohen Anteil im Einzel- und Kleingruppen-Üben bzw. dem entsprechenden Unterricht besteht, die Situation verschärfter Isolation. Diese führte zunächst zu einem enormen Motivationsverlust, dem Gefühl des Ausgeliefert-, auch des Nutzlosseins. Die für junge Musiker sehr wichtige und während des Studiums fortlaufend stattfindende Interaktion mit einem – wenn auch zahlenmäßig noch nicht großen – Publikum durch Vorspiele, kleine Konzertauftritte und Gelegenheitsaufträge entfiel von einem auf den anderen Tag vollständig, desgleichen die konstruktive Rückmeldung durch Zuhörer und Mitstudierende. In dieser besonderen Situation, die bis heute anhält und uns noch über eine unabsehbare Dauer begleiten wird, suchte ich nach Auswegen, um die Studierenden weiterhin zu außerordentlichen Bemühungen zu motivieren. Dies gelingt bislang sehr gut.

Auf der anderen Seite entsteht ein gesellschaftlicher Mehrwert, weil – vorrangig ältere - Menschen, für welche bis zum Frühjahr 2020 regelmäßige Konzertbesuche zum Erhalt der Lebensfreude und damit psychischen Gesundheit beitrugen, durch dieses Projekt etwas aus ihrer Einsamkeit geholt wurden bzw. fortlaufend werden.

In der Gesamtheit muss auch hervorgehoben werden, dass das Projekt einen Beitrag zur Verständigung zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Religion und sozialer Stellung schafft und bei den internationalen Studierenden ein besseres Verständnis für die menschlich-kulturelle Unverwechselbarkeit ihres Gastlandes Österreich fördert.

Nachhaltigkeit

Das Projekt ist selbstverständlich jederzeit auf gleiche Lehrsituationen übertragbar und mit zeitlich offenem Ende konzipiert.

Aufwand

Der zusätzliche Zeitaufwand für dieses Projekt betrug zwischen Frühjahr 2020 und Februar 2021 bislang für mich als Lehrende zwischen 60 und 70 Stunden. Außerdem wurden von mir privat zwei Video-Ausrüstungen mit Zusatzmikrofonen und einer Handvoll SD-Karten für hochqualitative Aufnahmen angeschafft, die zwischen den beteiligten Studierenden fluktuieren.

Positionierung des Lehrangebots

BA / MA - alle Studienabschnitte.

Links zu Social Media-Kanälen
Das Beispiel wurde für den Ars Docendi Staatspreis für exzellente Lehre 2021 nominiert.
Ars Docendi
2021
Kategorie: Lernergebnisorientierte Lehr- und Prüfungskultur
Ansprechperson
O.Univ. Prof. Dr.in Kerstin Feltz
Institut für Saiteninstrumente
+43 676 4201542
Nominierte Person(en)
O.Univ. Prof. Dr.in Kerstin Feltz
Institut für Saiteninstrumente
Themenfelder
  • Lehr- und Lernkonzepte
  • Organisatorische Studierendenunterstützung
  • Kommunikation/Plattform für Lehrende
  • Erfahrungslernen
Fachbereiche
  • Kunst, Musik und Gestaltung